Der chinesische Staat greift aktuell stark in die Regulation der lokalen Internet-Industrie ein. In der Folge könnte sich für europäische industrielle Investoren der Zugang zu den innovativsten chinesischen Technologie-Start-ups signifikant verbessern.
Die großen chinesischen Technologie- und Internet-Konzerne Baidu, Alibaba und Tencent galten lange als Vorzeigeunternehmen mit verhältnismäßig großen unternehmerischen Freiheiten. Mittlerweile interveniert der chinesische Staat aber massiv in der heimischen Internet-Industrie. Die Eingriffe treffen insbesondere Alibaba und seine verwandte Gesellschaft Ant Group. Ant musste den für Ende 2020 geplanten Börsengang absagen und Alibaba soll sich wohl von einem Teil seines bisherigen Geschäftsportfolios trennen. Derlei Interventionen des chinesischen Staates öffnen ein Opportunitäts-Fenster für europäische Unternehmen. Denn nachrückende Startups und Unternehmen werden nun mehr Chancen bekommen und europäische Firmen könnten sich an ihnen beteiligen.
In China hat sich eine hochinnovative Start-up Szene etabliert. Der neue 14. Fünfjahresplans soll die Innovationsstärke der chinesischen Wirtschaft weiter ausbauen. Von 2021 bis 2025 sollen die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung um jährlich sieben Prozent erhöht werden. Diese Mittel werden zwar überproportional Staatskonzernen zugutekommen, aber auch privaten Technologie-Start-ups dürfte immer noch ein beträchtlicher Schub an Kapital zuteil werden.
Die Vernetzung mit diesem innovativen Sektor der chinesischen Wirtschaft war für europäische Industrie-Unternehmen allerdings bisher oft schwierig. Chinas führende Technologie-Konzerne sind extrem breit aufgestellt und wirken als eine Art „Start-up-Staubsauger“. Ausgehend von Kerngeschäften haben sie sich durch die Übernahme einer großen Anzahl an Start-ups zu hoch diversifizierten Digital-Konglomeraten entwickelt. Gleichzeitig hat sich in China eine gut finanzierte Venture Capital Branche mit etwa 14.000 registrierten VCs entwickelt, bei der ca. 50% des investierten Kapitals in die Bereiche IT und Internet fließen. Aufgrund der Dominanz von chinesischen Technologie-Konzernen und ihren Corporate Venture Capital Bereichen sowie von Venture Capital Firmen hatten europäische Industrie-Unternehmen oft wenig Zugang zu den innovativsten und vielversprechendsten chinesischen Start-ups.
Anscheinend ist der chinesischen Regierung aber genau die breite Aufstellung und die damit verbundene Macht chinesischer Technologie-Konzerne ein Dorn im Auge. Das Zurechtstutzen Alibabas wird Signalwirkung haben. Chinesische Technologie-Konzerne werden ihre breit aufgestellten Geschäftsmodelle überdenken und bei der Übernahme von Start-ups erstmal deutlich verhaltener vorgehen müssen. Das wiederum wird europäischen Unternehmen mehr Möglichkeiten eröffnen, gezielt in chinesische Technologie-Start-ups zu investieren und sich als deren präferierte Partner für Exits oder zukünftiges Wachstum zu positionieren. Diese Gunst der Stunde sollten europäische Technologie-Unternehmen nutzen und verstärkt nach wertigen Übernahmezielen in der chinesischen Start-up Szene suchen, ob alleine oder auch in Partnerschaft mit Venture Capital Firmen.
Das Beobachten von und gegebenenfalls Zusammenarbeiten mit der chinesischen Start-up Szene sollte für europäische Unternehmen ein elementarer Bestandteil ihrer Innovationsstrategie werden. Die staatlich erzwungene Portfolioerweiterungs-Ruhepause seitens chinesischer Technologie-Konzerne kann mutige Deals ermöglichen, die bis vor kurzem noch nicht realistisch gewesen wären.
Dr. Marc Szepan
Dr. Marc Szepan ist Lecturer in International Business an der University of Oxford Saïd Business School, wo er auch promoviert wurde. Davor nahm er verschiedene Managementfunktionen bei Lufthansa wahr, zuletzt als Senior Vice President, Airline Operations Solutions, bei Lufthansa Systems. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin.