Das Umfeld bleibt schwierig, aber Chinas Zentralbank verfügt über jede Menge geldpolitische Manövriermasse. Portfoliomanagerin Wenchang Ma glaubt, dass sich China in wirtschaftspolitischer Hinsicht von anderen bedeutenden Märkten abkoppeln wird. Das eröffnet Chancen für Anleger.
Dass die Berichtssaison über das zweite Quartal in China in diesem Jahr sehr schwach ausgefallen ist, war keine Überraschung, nachdem mehrere Lockdowns die chinesische Wirtschaft im April und Mai ausgebremst hatten. Der Investmentausblick für China wird jetzt seit 2021 durch mehrere Belastungsfaktoren überschattet, die von weitreichenden Regulierungsreformen über den schwachen Immobilienmarkt bis hin zu wiederholten Covid-19-Ausbrüchen reichen. Dank seines umfangreichen Arsenals an geld- und fiskalpolitischen Instrumenten zum Anheizen der Konjunktur wird sich China in wirtschaftspolitischer Hinsicht jedoch voraussichtlich weiter von anderen bedeutenden Märkten abkoppeln.
Mit einer derartigen Divergenz ist das Land in jüngster Zeit gut gefahren. China hat seit Beginn der Pandemie eine andere Politik verfolgt als andere große Volkswirtschaften. Das ist ein Grund, warum sich die chinesische Wirtschaft schneller erholt hat als der Rest der Welt. China ist eine der wenigen großen Volkswirtschaften mit positiven Realzinsen, bei einer vergleichsweise moderaten Inflation – im August lag diese bei 2,5%. Daran hat die chinesische Regierung mit ihrem Verzicht auf weitreichende geldpolitische Stimulusmaßnahmen einen nennenswerten Anteil. Gleichzeitig hat die Null-Covid-Politik die Inlandsnachfrage gedämpft. Auch das hat zur Eindämmung der Inflation beigetragen.
Divergierende Politik
Die People‘s Bank of China unterstützt die Erholung, indem sie die Leitzinsen senkt, neue Kredite über die staatlichen Banken vergibt und die Sätze für Barmittelreserven, die Banken zur Sicherheit vorhalten müssen, reduziert. Im Gegensatz dazu sehen sich die meisten anderen großen Zentralbanken angesichts der hohen Inflation dazu gezwungen, die Zinsen rasch anzuheben. Dadurch sollte sich der mittelfristige Ausblick für China im Vergleich zu anderen großen Volkswirtschaften verbessern.
Ein stärkeres Wiederaufflammen von Covid-19 und Ansteckungsrisiken durch einen weltweiten Abschwung könnten dem entgegenstehen. Was Covid-19 angeht, wird Chinas strikter Kurs zur Bekämpfung des Virus zunehmend in Frage gestellt. Etwaige weitere Ausbrüche dürften jedoch weniger folgenschwer sein. Zum einen liegt die Impfquote im landesweiten Durchschnitt inzwischen bei 90%, zum anderen verfolgt die chinesische Regierung jetzt eine gezieltere Strategie zur Eindämmung der Omikron-Variante, zum Beispiel mit rollierenden 48-stündigen Lockdowns und Massentests anstelle längerer Lockdowns für alle.
Immobiliennachfrage weiter intakt
Ein weiterer potenzieller Belastungsfaktor ist der Immobiliensektor. In den vergangenen 18 Monaten haben mehrere Zahlungsausfälle überschuldeter chinesischer Immobilienentwickler für Negativschlagzeilen gesorgt. Einem Bericht von S&P Global Ratings zufolge droht rund 20% der bewerteten chinesischen Bauträger ohne zusätzliche Finanzierung die Zahlungsunfähigkeit.[1] Allerdings sind diese Probleme auf angebotsseitige Reformen und nicht auf eine fehlende Nachfrage zurückzuführen. Die Regierung ist hart gegen die schuldenfinanzierten Wachstumsstrategien der Immobilienentwickler vorgegangen. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Nachfrage weiterhin robust ist. Auch dank eines seit mehreren Jahrzehnten ungebrochenen Urbanisierungstrends sind die längerfristigen Aussichten für chinesische Immobilienentwickler mit soliden Bilanzen daher intakt.
China hat mehr als 40 Jahre gebraucht, um zu dem globalen Produktionszentrum zu werden, das es heute ist. Bis zum Ende dieses Jahrzehnts wird das Land jetzt voraussichtlich die USA als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen. Im verarbeitenden Gewerbe, das rund 27% zum chinesischen BIP beiträgt, liegt der Fokus zunehmend auf Premiumisierung und Effizienzsteigerung. In den vergangenen zehn Jahren hat sich Chinas wirtschaftlicher Schwerpunkt von der Industrie zu innovationsorientierten Dienstleistungen verlagert. Dadurch sind Chinas Wachstumshebel zunehmend technologiegetrieben. Sehr deutlich wird das an Chinas weltweit führender Positionierung in der Produktion von Batterien für E-Fahrzeuge. Letztlich dürfte dies helfen, die Folgen einer negativen demografischen Entwicklung abzufedern – in den kommenden Jahrzehnten wird die niedrige Geburtenrate in China dazu führen, dass die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpft.
Attraktive Bewertungen
Ungeachtet der allgemein schlechten Marktstimmung in diesem Jahr halten wir die Parameter weiter für attraktiv. Im Mai und Juni – zwei guten Monaten – hielten die Anleger Ausschau nach Einstiegsmöglichkeiten. Im Juli und August konnte sich der Markt dann aber nicht der globalen Makroschwäche entziehen. Für langfristig orientierte Investoren eröffnen sich jedoch zunehmend interessante Anlagemöglichkeiten. Chinesische Aktien sind sowohl im historischen Vergleich als auch im Vergleich zu anderen globalen Märkten relativ günstig bewertet. Die On- und Offshore-Indizes CSI300 und MSCI China notieren mit einem KGV von 10,8 bzw. 9,6 auf Basis der Konsensgewinnschätzungen für die nächsten zwölf Monate, verglichen mit 16 in den USA, 14,1 für die Industrieländer insgesamt und 13,6 für die globale Benchmark – den MSCI All Country World Index[2].
Das ist ein ordentlicher Aufschlag für langfristige Investoren, zumal das makroökonomische Umfeld in China stabiler ist als in den Industrieländern, die weiter gegen die Inflation ankämpfen. Falls die Unternehmensgewinne dieses Sentiment in der nächsten Ergebnissaison bestätigen sollten – insbesondere in den Sektoren, die von den steigenden Verbraucherausgaben infolge der Lockdown-Lockerungen profitieren werden –, könnte dies eine nachhaltigere Kurserholung unterstützen.
1 S&P Global Ratings, 2022, „China’s Property Downcycle Won’t End With Policy Easing“
2 Quelle: Goldman Sachs, Factset, I/B/E/S, MSCI, Worldscope. September 2022
Wenchang Ma
Wenchang Ma ist Portfoliomanagerin für die All China Equity-Strategie im 4Factor-Team von Nintey One. Bevor sie im Jahr 2014 zum Unternehmen kam, war sie bei J.P. Morgan als Aktienresearchanalystin für den Bereich Transport und Logistik tätig. Vor ihrem Wechsel zu J.P. Morgan im Jahr 2010 hatte sie bei Exane BNP Paribas eine ähnliche Rolle inne. Wenchang hat einen Bachelorabschluss in Volkswirtschaft von der Renmin University of China und einen MSc in Management mit Schwerpunkt Finanzen von der HEC Paris. Wenchang ist außerdem als CFA® zugelassen.