„Wir sind viel zu abhängig von China geworden.“ Am 30. August war dies der letzte Satz bei „Hart aber fair“ in der ARD. Um Corona ging es in der Sendung. Gesagt hat den Satz Gesundheitsminister Jens Spahn. Mit Corona hat er nur bedingt etwas zu tun. Im Gedächtnis der Zuschauer bleibt er jedoch hängen. Wie so viele Schlagzeilen der vergangenen Wochen und Monate, die vor China Fürchten lehren.
Eine sich wiederholende Diskussion. Erinnert sei an ein Ende Oktober 2010 vom Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft veröffentlichtes Positionspapier, das „Front“ gegen den chinesischen Wettbewerb in den Ländern Ost- und Mitteleuropas machte und nicht vor der Forderung nach einem Eingreifen der Politik zurückschreckte. In allen Einzelheiten wurde darin aufgelistet, wie China mit „unfairen Methoden“ strategische Partnerschaften in der Region aufbaue und damit in Wirtschaftszweigen Fuß fasse, die als unverrückbare deutsche Domäne gesehen wurden, selbstverständlich zum Schaden der mittel- und osteuropäischen Volkswirtschaften. Das Papier las sich damals wie ein Aufschrei gegen eine Entwicklung, die „Globalisierung“ genannt wird. Dass chinesische Unternehmen irgendwann die „Globalisierungsfrüchte“ nicht nur begierig entgegennehmen wollten, sondern sich selbst auch in die „Gärten der Welt“ zur „Ernte“ begeben – hätte damit nicht gerechnet werden müssen? Eine Selbstverständlichkeit. Ebenso wie Wettbewerb, auf den sich damals deutsche Unternehmen in Ost- und Mitteleuropa scheinbar nicht oder nicht ausreichend vorbereitet hatten. Jedenfalls nicht den durch chinesische Unternehmen.
Heute, mehr als ein Jahrzehnt später ähneln sich die Argumente. Mit der Seidenstraße sichere sich China wirtschafts-strategische Vorteile, selbstverständlich mit Mitteln, die unseren Wettbewerbsvorstellungen widersprechen. Afrika, Lateinamerika. Dasselbe Spiel. Dieses Jahr kamen „Masken- und Impfstoff-Diplomatie“ hinzu, die China nutze, Einfluss zu erlangen. Dass unter anderem Deutschland mit einer Blockade der Freigabe von Patenten für den Impfstoff Bemühungen blockiert, Menschen in Ländern Covid-Schutz zu ermöglichen, in denen das Staatssäckel weniger prall gefüllt ist, um sich im Markt die notwendigen Impfstoff-Mengen sichern zu können – geschenkt.
Ähnlich sieht es bei Standards aus. Wer den technischen Fortschritt bestimmt, definiert auch die Normen. Jahrzehnte waren es die westlichen Industrieländer, die das Sagen hatten. Dass dies kein gottgegebenes Recht ist, wird den Europäern nur mit Kopfschmerzen bewusst. Denn China ist längst in bestimmten Bereichen technisch-technologischer Trendsetter. Westliche Unternehmen haben China auf den Sprung geholfen. Auch das sollte nicht vergessen werden. Und westliche Regierungen befeuern heute die chinesische Innovation um so stärker, je mehr sie versuchen, das Land vom globalen technischen Fortschritt zu entkoppeln. Da wundern Diskussionen, wie vor wenigen Wochen auf LinkedIn gelesen, die Vorstellung sei „gruselig“, China könne eines Tages die Standards in der Welt „diktieren“. Warum eigentlich? Weil es das Recht der „westlichen Welt“ ist, zu bestimmen? Vergessen wir an dieser Stelle nicht, den EU-Parlamentariern zu danken. Sie haben die Ratifizierung des zwischen der Europäischen Union und China mühevoll ausgehandelten Investitionsabkommens blockiert. Die Vereinbarung hätte den Europäern die Möglichkeit eingeräumt, am chinesischen Standardisierungstisch Platz zu nehmen. Und umgekehrt. Denn es steht ja außer Zweifel, ein Flickenteppich an Normen und Standards dient keinem. Davon können wir alle ein Lied singen, wenn wir an die Vielzahl unserer elektronischen Geräte daheim mit all ihren spezifischen Steckern und Adaptern denken.
Den Europäern haben ihre Parlamentarier eine Chance zur Harmonisierung (zunächst) aus den Händen genommen. Dass es weniger Miteinander als Folge gibt und einen Wettbewerb um technologischen Einfluss, darüber muss sich keiner wundern.
Weniger gegenseitige Vorhaltungen, mehr Kooperation – das sollte nicht nur in den wirtschaftlichen Beziehungen zu China ein Grundprinzip sein. Wer das „Gegeneinander“ dem „Miteinander“ vorzieht, verliert eher, als dass er gewinnt. Wer derzeit „entkoppelt“, die Frage ist noch nicht beantwortet. China wird es vom Westen vorgeworfen. Retourkutschen aus China gibt es auch. Was aber von chinesischen Politikern selten zu hören ist, sind Aussagen wie die eingangs zitierte des Gesundheitsministers, auch wenn gern unterstellt wird, der im neuen Fünfjahresprogramm beschlossene „Doppelte Kreislauf“ ziele de facto darauf.
Der Punkt ist, dass es nicht schlau ist, sich einseitig abhängig zu machen. Das gilt für Deutschland wie für China. Deutschlands Schwierigkeiten, in der Pandemie medizinische Produkte schnell und ausreichend zur Verfügung zu haben, haben dies ebenso deutlich gemacht, wie die Versorgungsengpässe mit Chips, mit denen chinesische Technologieunternehmen derzeit umgehen müssen. Diversifizieren darf aber nicht heißen, über Jahre aufgebaute Brücken abzureißen. Sie lassen sich möglicherweise später nicht wieder so schnell aufs Neue errichten.
Peter Tichauer
Peter Tichauer ist ein ausgewiesener China-Experte. Nachdem er mehr als 20 Jahre das Wirtschaftsmagazin ChinaContact aufgebaut und als Chefredakteur geleitet hat, ist er seit 2018 im Deutsch-Chinesischen Ökopark Qingdao (www.sgep-qd.de) für die Kommunikation mit Deutschland verantwortlich.
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