Immer auf der Suche
Flexibilität und Improvisation sind entscheidende Merkmale dieser Geschäftskultur. Ganz im Sinne der Lehre des Ökonomen Israel M. Kirzner, der den Unternehmer als einen ständig nach Profitmöglichkeiten Suchenden beschreibt und dafür den Begriff der Wachsamkeit („alertness“) prägte. Diese einzigartige Dynamik ist vielleicht der größte Unterschied zum deutschen Mittelstand. Zeichnen sich zahlreiche Firmen hierzulande dadurch aus, extrem tief in spezielle Nischen vorzudringen – Stichwort Schraubenkönig –, sind chinesische Unternehmer selten auf einen Wirtschaftssektor spezialisiert, sondern suchen branchenunabhängig nach guten Geschäften. Firmenkonglomerate sind deshalb weit verbreitet – Hidden Champions, die per definitionem in einem eng abgegrenzten Segment agieren, weniger. Ganze 68 dieser unbekannten Marktführer zählte Hermann Simon von 2014 bis 2016 in China. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 1.307.
Die ständige Suche nach neuen Geschäftsmöglichkeiten ist aber nicht mit dem Fehlen einer übergeordneten Strategie zu verwechseln. Nicht unähnlich dem Transformationsprozess der chinesischen Volkswirtschaft sind kurzentschlossene Vorstöße, der Mut, neue Wege zu gehen, und die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen, Teil einer pragmatischen, experimentellen Vorgehensweise. Langfristig folgt aber auch die Unternehmensentwicklung in China typischerweise klaren Zielen. Gleiches gilt übrigens auf der Beziehungsebene: Obwohl das Tempo der Geschäftsabschlüsse in China im Allgemeinen höher ist, wird großer Wert auf den langsamen Aufbau tiefer, anhaltender Vertrauensbeziehungen gelegt.
Tatsächlich ist Guanxi – das durch unausgesprochene Regeln von Verpflichtungen und Austausch charakterisierte komplexe Beziehungsnetzwerk persönlicher Verbindungen – immer noch ein unerlässlicher Bestandteil jedes Unternehmenserfolgs in China. Zahlreiche Studien haben bestätigt, dass belastbare Netzwerke den Unternehmenserfolg verstärken. Auch das aktuelle Papier der IE-Universität kommt zu diesem Ergebnis – allerdings nicht, ohne darauf hinzuweisen, dass dies weniger einen Unterschied als vielmehr eine Gemeinsamkeit mit westlichen Kulturen darstellt.
Der Mittelstand im Netz der Politik
Natürlich sind auch deutsche Mittelständler stark vernetzt und so manches Geschäft ohne gute Kontakte nicht denkbar. In China ist das Beziehungsgeflecht jedoch systemimmanent und deutlich politischer. Trotz großer Fortschritte besteht noch immer eine institutionelle Lücke. Informationen sind nicht frei verfügbar, Ressourcen nicht allgemein zugänglich. In diesem Ökosystem sind chinesische Unternehmer auf informelle Institutionen wie ihr Netzwerk angewiesen, um einen reibungslosen Geschäftsfluss zu gewährleisten.
Politische Kontakte spielen dabei erwartungsgemäß eine hervorgehobene Rolle. Annähernd jedes erfolgreiche Unternehmen in China ist eng mit den parteilichen Entscheidungs- und Förderstrukturen verwoben. Laut einer Umfrage der Weltbank und des Department of Small and Medium Enterprises of China unter chinesischen KMU findet sich in mehr als jedem zweiten chinesischen B2B-Start-up ein Teammitglied, das speziell für den Aufbau guter Beziehungen zur lokalen Regierung verantwortlich ist. Anders als bei den großen und für die Politik strategisch bedeutsamen Konzernen spielte der Staat in der Finanzierung von Start-ups und KMU bisher jedoch eine untergeordnete Rolle. Weil auch der Mittelzugang über Banken für viele Mittelständler versperrt ist, erfolgt die Finanzierung sehr oft über private Netzwerke.
Sowohl Politik als auch private Geldgeber üben einen hohen Einfluss und Druck auf den Lǎo Bǎn aus. Zwar treten die Partei und die Investoren eines Unternehmens bei Verhandlungen sehr selten auf; sie können aber Kooperationen oder Transaktionen unterstützen oder unmöglich machen, ohne selbst jemals am Verhandlungstisch gesessen zu haben. In der Quintessenz ist der Lǎo Bǎn in einem chinesischen Unternehmen nach innen und in Bezug auf die Mitarbeiter und Geschäftspartner ein annähernd autokratischer Entscheider, während er in Bezug auf die politischen und finanzierenden Stakeholder in einem sehr engmaschigen, für Europäer nicht durchschaubaren Netzwerk persönlicher Beziehungen agiert.
Private Unternehmer entscheidend für Chinas Zukunft
So, wie der typische deutsche Mittelständler mit dem fortschreitenden Generationenwechsel, der Entstehung neuer digitaler Industrien, einer steigenden Zahl weiblicher Führungskräfte und anhaltender Urbanisierung anders wahrgenommen wird, unterliegt auch das Unternehmerbild in China einem stetigen Wandel – umso mehr, als dem Mittelstand in China ein ähnliches Nachfolgethema bevorsteht wie dem deutschen. Mehr als 3 Mio. Unternehmer gehen in China in den kommenden Jahren schätzungsweise in den Ruhestand. Doch gerade jetzt braucht China seine Unternehmer. Die Fortsetzung der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte ist zunehmend auf endogene Innovationen angewiesen – das funktioniert aber nur, wenn private Unternehmer bereit sind, Risiken zu übernehmen.
Kein Wunder, dass die chinesische Regierung den Mittelstand vermehrt fördert. Bestes Beispiel ist die 2018 in Kraft getretene Neufassung des SME Promotion Law. Unternehmerisches Denken wird dort interpretiert als harte Arbeit, Streben nach Exzellenz, Handwerkskunst, Innovation und soziale Verantwortung. Klingt ganz nach „German Mittelstand“.
Axel Rose
Axel Rose: Axel Rose ist Bankkaufmann und Volkswirt und seit 2013 bei der BankM AG im Projektgeschäft tätig. Als Spezialist für Kapitalmarktkommunikation hat er zahlreiche Transaktionen mit Chinabezug begleitet. BankM unterstützt mittelständische Unternehmen mit einem breiten Dienstleistungsportfolio u.a. bei der Suche nach strategischen Partnern im asiatischen Raum.
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