Zeitenwende. Vor jetzt mehr als fünf Wochen hat Bundeskanzler Olaf Scholz das Wort geprägt. Und es hat das Zeug, zum „Wort des Jahres“ zu werden.
Zeitenwende. Das bezog sich zunächst, als Antwort auf den Krieg in der Ukraine, auf jahrelange unumstößliche Grundprinzipien der deutschen Politik, die schlagartig „über den Haufen“ geworfen wurden. Seitdem die „Zeitenwende“ eingeleitet wurde, sind rund fünf Wochen vergangen, und es scheint, in immer mehr Bereichen wird justiert. Maßstäbe werden neu gesetzt. Normen schärfer definiert.
EU und China müssen wieder mehr zueinander finden
So war es auch beim EU-China-Gipfel am letzten Tag des Monats März. Dass er wie die vergangenen erneut nur „im Netz“ abgehalten wurde, war dem Straffen des Netzes der bilateralen Beziehungen, das in den vergangenen zwei und mehr Jahren hier und da recht „ausgeleiert“ wirkte, nicht gerade dienlich. Dabei wäre es an der Zeit, dass EU und China, füreinander wichtige Handelspartner und Märkte, wieder mehr zueinander finden, Hürden aus dem Weg räumen und Grundlagen für neue Perspektiven in der Kooperation schaffen. Das mit viel Schweiß ausgehandelte Investitionsabkommen etwa, das die europäischen Parlamentarier schlicht und einfach ins Aus befördert haben. Wirtschaftsinteressen sollten hinten an stehen, als ob Wohlstand (in Europa) nicht durch die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen gesichert werden könnte.
Forderungen nach „Chinas‘ Verantwortung“ kontraproduktiv
Die politische Großwetterlage, die für Deutschlands „Zeitenwende“ gesorgt hat, hing wie eine Glocke über dem Gipfel. Wäre dies nicht der Fall – es würde wundern. Dennoch bleibt die Frage, ob es nicht klüger wäre, für konkrete Schritte zur besseren Gestaltung der künftigen europäisch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen nicht auf der Forderung zu beharren, dass „China seine Verantwortung wahrnimmt“, wie es die Kommissionspräsidentin formulierte. Positioniert sich China nicht im Sinne der EU, finden auch keine Gespräche statt, wie beide Seiten etwa aus der Logistik- und Lieferketten-Misere kommen, hervorgerufen durch einen scheinbar geringen, aus chinesischer Sicht aber gewaltigen Corona-Ausbruch, der beispielsweise die Wirtschafts- und Finanzmetropole Shanghai in den „Dornröschenschlaf“ versetzt hat. Gerade am Gipfel-Wochenende. Reisen und Reisen lassen, so ließe sich ein LinkedIn-Kommentar zusammenfassen, den ein italienischer Anwalt in China vor dem EU-China-Treffen geschrieben hat, und zwar für Menschen und Waren.
Es gebe genug bilateralen Gesprächsstoff. Energiesicherheit gehört dazu, der ökologische Umbau der globalen Energieversorgung. Die Behauptung aus der EU-Kammer in Peking, China brauche die EU mehr als umgekehrt die EU China mag aus Sicht der Handelsströme möglicherweise stimmen, auch wenn sie wohl eher als eine Beruhigung für die Europäer gedacht sein und die Chinesen unter Druck setzen soll. Bei globalen Trends, die eine neue Richtung bekommen sollen, wird es schon schwieriger, diese Logik aufrecht zu halten.
Keine Beziehung soll aufs Spiel gesetzt werden
Nun lässt der erneute Ruf nach chinesischer Verantwortung aufhorchen. Denn ambivalent ist er. Wo immer China Verantwortung in den vergangenen Jahren übernommen hat, etwa beim Ausbau der Infrastruktur in weniger entwickelten Regionen dieser Welt – durchaus auch im eigenen wirtschaftlichen Interesse –, stieß es in Europa auf wenig Wohlwollen. Der Wettbewerber wurde gewittert, der längst zum „strategischen“ wurde. Dass chinesische Diplomaten und Politiker nicht über Kanäle verfügen, um zwischen Ukraine und Russland zu vermitteln, und diese auch nutzen – kaum vorstellbar ist das. Zu beiden Ländern unterhält China gute Beziehungen. Keine soll aufs Spiel gesetzt werden. Grundsätzlich scheint es eine strategische Logik zu haben, den Gesprächspartner nicht zu verdammen, der für eine Lösung gebraucht wird. Vor allem ist es schlau, nicht jeden Gedanken, nicht jeden Schritt in die Talkshows zu tragen, die die Welt bedeuten.
Insofern war der jüngste EU-China-Gipfel eine vertane Chance, beiderseitige Interessen stärker anzugleichen. Die Zeitenwende könnte sich anders als in Brüssel erhofft auswirken. Zum Nachteil beider, der EU und Chinas. Gar nicht zu reden davon, dass ein wirtschaftlich geschwächtes Europa der Ukraine auch keine Hilfe ist.
Peter Tichauer
Peter Tichauer ist ein ausgewiesener China-Experte. Nachdem er mehr als 20 Jahre das Wirtschaftsmagazin ChinaContact aufgebaut und als Chefredakteur geleitet hat, ist er seit 2018 im Deutsch-Chinesischen Ökopark Qingdao (www.sgep-qd.de) für die Kommunikation mit Deutschland verantwortlich.